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Amo, Volo ut sis! Ich liebe Dich, ich will, dass du seiest.

Kommentar zum 31. Sonntag im Jahreskreis von Jean-Marie Weber (3.11.2024)

Es erschreckt mich immer mehr, wie grausam wir Menschen sein können, zum Teil aus Angst, Wahn, Allmachtsphantasien, Hass auf das Leben oder aus der Lust zu quälen.

Das Evangelium ruft uns zur Nächsten- und sogar zur Feindesliebe auf. Viele sind aber der Meinung, dass wir die enormen Ungleichheiten in der Welt nicht beseitigen können und es deshalb gar nicht erst versuchen sollten. Manche denken, dass nichts, was wir tun, wirklich etwas bewirkt, und dass es daher eine Verschwendung unserer Energie sei, wenn wir uns zu sehr für andere einsetzen. Andere glauben sogar, je weniger sie sich engagieren, desto besser sind sie gegen das Unglück der Welt geimpft. (Mari Ruti)

Wie differenziert auch immer das Gebot der Nächstenliebe interpretiert wird, das Gemeinwesen braucht gegenseitigen Respekt und Solidarität. Wer sich dem völlig entzieht, nimmt eine nihilistische Position ein. Er glaubt nicht an die Fülle des Lebens, an die Kreativität des Menschen und an die Liebe zur Welt.

Die Liebe in ihren verschiedenen Formen wie Partnerschaft, Empathie, Dialog, „care“ oder Kampf für Gerechtigkeit und Frieden lässt uns erfahren, dass das Gute absolut sinnvoll ist: Es ist auf jeden Fall sinnvoller zu helfen, als es nicht zu tun. Man muss seine Studenten lieben, sagte mir vor einigen Tagen ein Universitätsprofessor. Es sei besser, sie aus Liebe zu motivieren, als aus neutraler Distanz zu dozieren. Solche Erfahrungen vermitteln den Studierenden nicht nur Wissen, sondern auch einen Sinn für Engagement. Hier, wie auch in anderen Engagements, kann Liebe als Grundhaltung durchscheinen: als Anerkennung des Andersseins des anderen und als gemeinsames Handeln beider Subjekte.

In Grenzsituationen, wenn wir vor einem Abgrund stehen, spüren wir, dass wir uns entscheiden müssen. Sind wir bereit, uns auf das Leben mit seinen Überraschungen einzulassen, auf die Wahrheit unserer Sehnsucht nach Glück, auf die Liebe, oder verharren wir in unseren Blockaden, in unserem Schicksalsglauben, dass alles determiniert sei?

Keiner von uns hat Gott je gesehen. Aber wir spüren die Unbedingtheit, den Anspruch und die Eindringlichkeit des Wortes „Gott“, sowohl als Gläubige, als Atheisten und auch als Agnostiker. Natürlich ist dieses Wort missbraucht worden und hat zu wahnsinnigen Grausamkeiten geführt. Letztlich ruft uns Gott als Wort heraus, unser Sein, unsere Sehnsucht im Dialog auf das unbegreifliche Leben auszurichten, auch im körperlichen und seelischen Schmerz. Das bedeutet wohl auch der Satz, dass wir Gott lieben sollen aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Denken und ganzer Kraft.

Unser Festhalten am „Wort Gott(es)“ und an der Nächstenliebe fördert unsere Intimität, unsere Leiblichkeit, unsere Spiritualität und unser Denken. Und so können wir “nur mit uns selbst danken. Liebe wandelt die Dankbarkeit in die Treue zu uns selbst und in den unbedingten Glauben an den Anderen. So steigert die Liebe ständig ihr eigenstes Geheimnis”, schreibt M. Heidegger 1925 an H. Arendt.

In einem späteren Brief schreibt Heidegger an seine Geliebte das berühmte Wort, das er Augustinus zuschreibt: "Amo, Volo ut sis.“ Ich will, dass du seiest. Bei aller Mehrdeutigkeit dieses Satzes frage ich mich, ob das nicht die Haltung ist, mit der wir unseren „Nächsten“ und „Feind“ begegnen sollten:  ihn auf dem Weg zu seinem „wahren Selbst“ zu einem „kreativen Leben „unterstützen. (D.W. Winnicott)

Als gespaltene Wesen sind wir dazu nicht in vollem Umfang in der Lage. Deshalb richten Gläubige bewusst oder andere vielleicht unbewusst das „Amo, Volo ut sis“ , auch an Gott. Sie wollen das Wort „Gott“ nicht missen als Zeichen dafür, dass nicht alles gleichgültig ist. Deshalb müssen wir auch immer wieder aufschreien und Nein sagen, damit die Zukunft unserer Kinder, aller Menschen dieser Welt, der Demokratie oder der Kirche offen bleibt.

Als wären diese Sätze des Markus nicht herausfordernd genug, sagt er uns Religiösen zum Schluss, dass die Liebe den Opferkult ersetzt. Eine Religion als kollektive Zwangsneurose, wie Freud sie analysierte, wird hier im christlichen Diskurs der Liebe überwunden.

 

 

 

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