Heilige des Alltags
Kommentar zu Allerheiligen von Henri Hamus (1.11.2024)
Während der Corona-Pandemie wurden verschiedene Berufe und Tätigkeiten als systemrelevant bezeichnet: öffentlich applaudiert wurden Krankenschwestern und Ärzte, Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Ordnungsdienste und Polizisten, Fernfahrer, Beschäftigte bei Müllabfuhr, Infrastruktur und Lebensmittelversorgung … Interessanterweise waren weder Kirchen noch Seelsorgerinnen und Seelsorger dabei – sie scheinen nicht systemrelevant zu sein!?
Am Fest Allerheiligen würdigen wir die "große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen" (erste Lesung, Offb 7,9), die Heiligen des Alltags, die sehr wohl systemrelevant sind, die sehr wohl bedeutsam und unersetzbar sind für das Leben in Gesellschaft, Kirche und Welt.
Es sind die Frauen und Männer, die in keinem Kalender stehen, auf keiner offiziellen Heiligenliste; über sie wurden keine Bücher geschrieben, sie standen nie im Mittelpunkt – sie sind die einfachen und bescheidenen Heilige des Alltags.
Ohne sie wäre die Kirche arm dran. Denn sie leben ihr Christsein nicht mit Worten und guten Vorsätzen, nicht in schönen Feiern und anspruchsvollen Konferenzen – sie leben ihre Treue zu Jesus Christus in der alltäglichen Treue zu ihrer Familie, zu ihrer Arbeit, zu ihren Engagements. Sie sind die oft als graue Mäuse bezeichneten, unscheinbaren Menschen mit dem frohen Lächeln im tristen Alltag, mit dem aufmunternden Wort im täglichen Klagen, mit dem selbstverständlichen Zupacken, wo andere nur gaffen, mit der rücksichtsvollen Geste, wo sonst nur Gleichgültigkeit ist…
Sie sind die stillen, oft unsichtbaren Frauen und Männer, die eine Blume auf den Tisch im Altenheim stellen, die am Ende eines Festes beim Wegräumen helfen, die dem Nachbarkind bei den Schulaufgaben helfen, die bei der Friedensdemo mitmachen, die Unrecht offen Unrecht nennen und Kindern Bibelgeschichten vorlesen.
Sie trauen sich, das zu tun, was andere liegen lassen, ein leises Wort zu sagen, wenn andere lauthals streiten, einfach zu helfen, wo nur über die Untätigkeit des Staates geschimpft wird.
Sie verstecken nicht ihren Glauben, sie wollen nicht unauffällig sein, sie beten auch, wo andere scheu wegschauen.
Sie sind die Frauen und Männer, die nach einem Wort des früheren Bischofs von Erfurt Joachim Wancke "an Küchentischen und Kinderbetten beten" und so sicherstellen, dass das rote Licht in den Kirchen nicht ausgeht!
Sie sind die Heiligen des Alltags, denen wir an Allerheiligen gedenken. Sie gehören zu den Menschen, die Jesus am Anfang der Bergpredigt selig preist, die er „reich gesegnet, überglückliuch, freudetrunken, völlig von Glück erfüllt und heil“ nennt (alles mögliche Übersetzungen des griechischen makarioi).
Selig nennt Jesus die Menschen, die so gar nicht mitschwimmen im allgemeinen Trend. Die Seligpreisungen (Evangelium von Allerheiligen: Mt 5,1-12) sind Glückwünsche, aber auch Anleitungen zur Nachfolge Jesu im Alltag.
Die Menschen, die arm sind vor Gott, die wegen ihres Glaubens verfolgt und verspottet, belächelt und verachtet werden, machen schon ein Stück Gottesreich sichtbar; denn sie machen in ihrem Leben etwas erfahrbar von dem, was eine bessere und gerechtere Welt anzeigt und beginnen lässt.
Selig nennt Jesus die Trauernden, die Menschen, die an der Not und der Armut der anderen, die am Tod so vieler Unschuldiger leiden. Sie trauen sich Gott zu sagen, wo andere nur schweigen. Der russische Religionsphilosoph Leo Schestow schrieb: "Gott sagen heißt, dem Tod widerstehen." Sie trösten nicht nur mit Worten, sie trösten mit Gott, der ihr eigener Trost ist.
Selig nennt Jesus die Frauen und Männer, die ein gütiges und liebendes Herz haben, die keine Gewalt anwenden, die nicht lärmend und schreiend und fordernd auftreten, die sich lieber hinunterbücken, sich dem Verletzten zuwenden und still und leise helfen, wo andere wegschauen.
Selig nennt er die Menschen, die den Menschen ohne Vorurteil begegnen, die ihr Herz frei halten von Hintergedanken und bösen Absichten, die im Menschen immer das Gute erkennen und immer bereit sind, Streit zu schlichten und nicht aufhören können, an den Frieden zu glauben und sich als Friedensstifter zwischen alle Fronten zu wagen.
«Heilige sind Männer und Frauen, die die Freude im Herzen tragen und sie an andere weitergeben», sagt Papst Franziskus. Bei seinem Besuch in Luxemburg am 26. September sprach er in seiner Botschaft in der Kathedrale von der Freude: "Der Kirche tun jene traurigen, langweiligen Christen mit einem langen Gesicht nicht gut. Nein, das sind keine Christen. Bitte, habt die Freude des Evangeliums: das stärkt uns im Glauben und lässt uns sehr wachsen."
Gott sei Dank, gab und gibt es diese Menschen: sie leben unter uns, einige oder viele haben wir gekannt; dank ihnen war und ist das Leben erträglich, bunt und voller guter Überraschungen. Allerheiligen ist ihr Fest!
Wenn wir an Allerheiligen und Allerseelen an den Gräbern unserer Verstorbenen stehen, werden wir ihre Namen lesen und dürfen glauben, dass sie kleine Heiligen des Alltags waren, ohne die eine Gemeinschaft in Familie oder Gesellschaft oder Kirche nicht bestehen kann: etwas Wichtiges würde ihr fehlen – sie sind sehr wohl systemrelevant!
Ihr Leben hatte nichts Außergewöhnliches, nichts Großartiges und zweimal nichts Wunderliches, es war das normale Leben – aber ein Leben mit ganz viel Liebe.
Wer die "Heiligen des Alltags" seien, beschrieb Papst Franziskus am 4. Dezember 2014 so: "Denken wir an so viele einsame alte Menschen, die beten und geben. Denken wir an so viele Mütter und Väter, die mit so viel Mühe ihre Familie voranbringen, die Erziehung der Kinder, die tägliche Arbeit, die Probleme, aber immer mit der Hoffnung auf Jesus; sie spreizen sich nicht wie ein Pfau, sondern tun, was sie können… ‚Heilige des Alltags‘ sind verborgene Heilige mitten unter uns, die die ‚Gabe der Stärke‘ besitzen, um ihre Pflicht als Brüder und Schwestern, als Menschen und als Bürger zu erfüllen.“
Nach ihrem Vorbild dürfen auch wir den Mut aufbringen, unangenehme Dinge anzusprechen, selbstlos und unauffällig zu helfen, aktiv mitzumischen und für das einzustehen, was uns wichtig ist, so wie es uns Jesus selber vorgelebt hat!